Nutella zum Frühstück
Michael Ende im Regal: War das die DDR? Die ZEIT, 25. November 2004
Niemand will die DDR zurück. Nun gut, die wenigsten haben etwas gegen Ganztagsschulen, kostenlose Arztbesuche und niedrige Mieten, aber außer ein paar Geistesgestörten will niemand wieder die Hunde an die Laufleinen im Mauerstreifen legen und den Tränenpalast in den Ort zurückverwandeln, an dem Tränen geweint und sie nicht gelacht werden über die Witze von Kabarettisten.
Aber lassen wir uns nicht täuschen: Die DDR muß gar nicht zurückkommen, weil sie in uns lebt wie die Bundesrepublik Adenauers und Brandts, das Dritte Reich, die Weimarer Republik und sämtliche Kleinstaaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Da ist nichts zu machen, das alles kreist in unserem Blut, durch unsere Gehirnzellen, Nervenbahnen und zwei Dutzend Fernsehkanäle. Die Frage ist also nicht, ob, sondern auf welche Weise die DDR überlebt. Und da muß ich feststellen, daß mir dieses untergegangene Land desto fremder wird je mehr ich darüber erfahre.
Beispielsweise hatte ich in meinem siebenunddreißigjährigen DDR-Leben niemals etwas von einer Frau namens Helga Hahnemann gehört. Dabei muß sie einmal gelebt haben, da sie doch gestorben ist und ihr Gespenst in jeder zweiten Woche an einem Gernsehabend über die Mattscheibe flimmert; da nach ihr sogar der Fernsehpreis "Die goldene Henne" benannt wurde, den man unter anderem Bärbel Bohley überreicht hat, von der ich zwar gehört hatte, aber nicht gewußt, daß sie eine Unterhaltungskünstlerin war.
Ich habe also viel zu lernen und bin dazu durchaus bereit. Vor allem interessiert mich das letzte Jahrfünft dieses Landes, das ich selbst nicht mehr am eigenen Leib erlebt habe, und dabei besonders der Blick, den die damals kindlichen oder jugendlichen Beobachter nachträglich darauf werfen. Wenn man nach der Zahl der von der "Generation Trabant" veröffentlichten Bücher geht, haben sie dazu viel zu sagen. Um einen ersten Überblick zu gewinnen, studiere ich ein Zeitungsgespräch, das einige dieser jungen Autoren führten. "Die DDR war für Jochen Schmidt keine Angsterfahrung" und die Wende ein "Etikettenschwindel" erfahre ich vom Verfasser des Buches "Mein erstes T-Shirt". Die Autorin von "Zonenkinder" betont, daß sie zu jung war, um sich der DDR gegenüber zu "positionieren", und demzufolge "sozusagen neutral" war. Niemand widerspricht der Aussage, der Sehnsuchtsort dieser Generation liege in einer Kindheit, von der ihnen westliche Altersgenossen bestätigen, daß "vieles so gleich" wie in der Bundesrepublik war.
Das wundert mich doch etwas, aber dann entdecke ich unter den Autoren die Kinder und Enkel von prominenten Berufskollegen, und mir wird einiges klarer. Schon möglich, daß es in den Familien Hensel, Hein und Wolf ebenfalls Nutella zum Frühstück gab, gemeinsam die "Sesamstraße" gesehen wurde und "Die unendliche Geschichte" in den Bücherregalen stand. Am wenigsten kann ich mir das im Haus des alten und neuen PDS-Vorsitzenden Bisky vorstellen, weshalb ich stellvertretend zum Buch seines ältesten Sohnes greife, denn ein bißchen "anders" sollte doch sein, was man mir mitteilt.
Und es ist tatsächlich um einiges anders als ich es kenne. Statt eines Posters von den "Beatles" hing in seinem Zimmer Che Guevara an der Wand und darunter ein kubanisches Halstuch, das der Junge in der Pionierrepublik "Wilhelm Pieck" eingetauscht hatte; er hörte DT 64 und nicht Radio Luxemburg oder den RIAS; seine Mutter, die als Schriftstellerverbandsangestellte für junge Autoren wie mich zu ständig war, hat sich bis heute nicht verziehen, daß sie dabei für die Stasi spitzelte, so wie der Sohn seine Mitgliedschaft in der SED und die vierjährige Ausbildung zum NVA-Offizier im nachhinein als Fehlentscheidungen betrachtet.
Habe ich in einem anderen Land gelebt? Die Leute, mit denen ich umging, wurden Spatensoldaten oder haben ihre anderhalb Jahre Grundwehrdienst abgerissen, ständig von der Versuchung gepeinigt, sich in den Fuß zu schießen; sie waren nie in der Pionierrepublik, dafür in Nervenheilanstalten und mitunter im Gefängnis; sie haben sich an der Mauer die Köpfe blutig gestoßen, bevor sie sie per Flucht oder Ausreiseantrag hinter sich ließen oder sich in ihrem Schatten verkrochen, aus dem sie erst wieder auftauchten, als sie zu wanken begann.
Anders der junge Bisky. Nach der Armeezeit hatte er die Beziehungen, bei seinem geliebten DT 64 unterzukommen, und das Glück, sogleich über etwas Lohnenswertes, nämlich den Zusammenbruch des von ihm niemals in Frage gestellten Staates, berichten zu können. Man nimmt ihm durchaus ab, daß er ihn nicht zurückhaben will. Sympathischerweise bezeichnet er sich selbst als "Wendegewinnler", der "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" war, statt Nahostwissenschaften nun Journalistik und Literaturgeschichte studierte, promovierte, für Zeitungen schrieb und seine Schriftstellerkarriere mit der Veröffentlichung von Erinnerungen begann.
Aber was sagen die uns? Daß man ganz gut durch dieses Leben ohne Schmerzen kommen kann und trotzdem zur Erkenntnis, daß es die DDR besser nicht gegeben hätte? Sind solche Erkenntnisse wert, in unser Gedächtnis einzugehen, oder wären es nicht eher die derjenigen, die "zur falschen Zeit am falschen Ort" waren und es womöglich noch sind und deshalb wirkliche Erfahrungen mitzuteilen haben? - Schweigen sie oder wollen wir sie einfach nicht hören?
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