Rezension: Das Treffen
Von: Wolfgang Kil. Präsentation durch Fragen. Bernd Wagner "Das Treffen", Aufbau-Verlag 1976. Temperamente 1/77
Zuerst möchte ich dem Nachwort widersprechen: Für mich ist durchaus von Belang, daß der Autor dieses Buches Jahrgang 1948 ist. Damit erweist er sich mir (und wie vielen anderen?) als Bruder in der Zeit. Und weitere Parallelen der Biografie: Studium, obendrein im Thüringischen, danach Landschaftswechsel durch Absolventeneinsatz - Nebensächlichkeiten? Da ist mir vieles vertraut: Töne, Stimmungen, Fragen. Auch Gefühle eines Unbehagens, das denn Lebensweg derer, die jetzt auf die dreißig zugehen, von Zeit zu Zeit färben. Und wenn er davon spricht, wenn er das aufschreibt, dann sehe ich da keinen Verkünder, der eine Generation ausstellen will. Denn das zu tun, im landläufigen Sinne, ist die Zeit noch nicht reif. Hier ist jeder Versuch, eine Geschichte anzufangen, noch eine Frage: Was alles führt zu meinem Jetzt, meiner unmittelbaren Befindlichkeit (die mehr ist als "Familienstand" oder "z.Z. ausgeübte Tätigkeit")? Diesen Fragen sich anzuschließen, sie für sich selbst mit auszutragen ist Sache jedes Einzelnen, das vermögen und die Bereitschaft dazu mag den Kreis der Leser bestimmen.
Also ein Buch für "insider"?
Ja und nein. Sicher gibt es mehrere Ebenen der Auseinandersetzung mit Wagners Geschichten. Neben dem Hineinschlüpfen in ihre Problematik liegt eine zweite Form der Wirklichkeit vor: In seinem Befragen ist zweifellos auch ein Aussagen enthalten, das Ausstellen einer Generation im nicht landläufigen Sinne. Wenn wir (die bezeichneten, die betroffenen Jahrgänge) ehrlich sind, haben wir in der Regel keine andere Möglichkeit, als uns durch unsere Fragen zu präsentieren; Menschwerdung des Einzelnen dauert heute gar nicht selten ein Vierteljahrhundert, effektvolle Entscheidungssituationen sind bis dahin dünn gesät, Taten (abrechenbare) stehen noch aus. Und demgegenüber - wer weiß die Kraft zu schätzen, die einer braucht, um schonungslos alles unter das grelle Licht der nüchternen Betrachtung zu stellen, was bislang dem eigenen Leben in verschwommener Weise lieb und gewohnt war! Vertrautheiten. Welche stehen zur Debatte?
Drei Dinge scheinen die besondere Aufmerksamkeit Wagners zu genießen:
1. Die erste Menschwerdung (Kindsein: was ist das eigentlich, dem man da, pauschal betrachtet, ewig schwärmend nachhängt?)
2. Die zweite Menschwerdung (Versunkenheit in die Welt des Studentenseins plus ernüchterndes Auftauchen im - niemals so - erwarteten Praxis-Alltag)
3. Die Eltern (als herausragende Figuren der Kindheit und, später, Auslöser zwiespältiger Gefühle: offener Auflehnung und artikulationsloser Zuneigung).
Diese Themen herrschen in den Geschichten der ersten beiden Abschnitte des dreigeteilten Bändchens vor. Kindheit erscheint in seltsam verdichteten Episoden, voll des traumhaften Schwebezustandes, in dem frühe Erlebnisse gewöhnlich registriert werden und der auch nicht frei ist von furchteinflößenden Einbrüchen: Der Tod der Großmutter ("Das Gewitter"), die unverstandene Tat des Cousins ("Mein Cousin Herbert"), die unkontrollierbare Angst vor der personifizierten Unfaßlichkeit ("Heini"), die Ernüchterung nach einem euphorischen Spielerlebnis ("Fastnacht"). Warum sind wir so irritiert? Haben wir all die namenlose Ängste vergessen, die zu unseren frühesten Jahren gehören wie das Gefühl der Geborgenheit, dessen allein zu erinnern man sich heute noch zubilligt?
Auch das Studentensein ist schon Erinnerung. Diese Tatsache mag eine eigene Technik der Bewußtmachung provozieren: Das zaghafte, andeutungsweise Beschwören von Details einer innerlich zutiefst vertrauten Umgebung (Über ein BIld...") erinnert mich stark an die Sprache Bobrowskis. (Auch einer, der sich um die Rekonstruktion -nicht Restauration!- unwiderbringlicher Vergangenheit mühte.) Aber im Gegensatz zu den Kindheitsgeschichten, die - dank ihren spezifischen Gegenständen - mehr in Fakten fabulieren, kontrastreiche Bilder aufbauen, ist jene Zeit der "zweiten Menschwerdung" schwerer in den Griff zu bekommen. Der Erlebende, Aufzeichnende ist in seinen Erfahrungsgewohnheiten viel komplexer geworden, paradoxerweise verkompliziert ein aufmerksamerer, wacherer Geist die endgültige Durchdringung dieses Universums, in dem er sich vorfindet. Auch der obenhin nicht einfach zu erklärende Vorgang, nach dem aus einem selbstsicheren Absolventen innerhalb kürzester Zeit ein verwirrter, von kritischen Ahnungen erfüllter Anfänger auf unerforschtem terrain wird ("Erster Tag in S."), ist in ähnlicher Weise nur tastend zu umschreiben, schließlich Zuflucht bei lakonischen Fakten suchend. Die beiden letztgenannten Geschichten scheinen mir am stärksten auf Leser angewiesen, die ähnliche biografische Daten wie der Autor aufzuweisen haben.
Was nun die Vorgänger-Generation betrifft, ist das gesamte Spektrum möglicher Gefühle ausgebreitet. Wobei das kritische Moment überwiegt. Aber lassen denn die Verhältnisse mehr zu, wenn das höchste Zugeständnis der zitierten Altersgruppe in dem Satz mündet: "Man muß sich tatsächlich der Zeit anpassen, alles ist auch nicht schlecht." ("Tod von Frau Wieger")
Der Autor lät niemals offen, wo er lebt und in welcher Zeit. Und daß da notwendigerweise Umbrüche auch durch Familien gehen. Als wenn es nicht genug wäre, daß unheldische Menschen (von den seltenen echten Helden ganz zu schweigen) oftmals zwiespältige Charaktere sind: "Immer, wenn er getrunken hatte, war er still, traurig, zärtlich..." - der Vater, der seine Kriegserlebnisse lauthals in Kneipen zum besten gab ("Heini"). Die Ambibalenz heutiger Eltern-Kind-Beziehungen macht wohl am betroffensten in der Titelgeschichte ("Das Treffen"), die für mich zum Besten gehört, was zu diesem Thema bei uns in letzter Zeit geschrieben wurde.
Ich will mich der Vesuchung entziehen, zu den restlichen Geschichten, denen, die nicht einem der eben behandelten Themenkomplexe zugehören, ähnlich weitschweifende Reflexionen anzustellen. Genügt es zu sagen, daß Wagner auch versteht, überzeugende (mitunter genußvoll geistreiche) Zusammenhänge zu konstruieren, in denen er symbolhaft archetypische Erfahrens- und Handlungsweisen transportiert? Da wird eine Frau durch eine Film-Truppe (vollendeter V-Effekt!) mit ihrer eigenen Lebenswahrheit konfrontiert ("Ruhetag"). Da erfährt eine Halbgöttin die Verarmung, die verpaßtes Menschsein bedeutet ("Kalypso"). Da wird wirklichkeitsfernes Theoretisieren von den tatsächlichen Realitäten denunziert ("Schattenmorelle"), wobei diese Geschichte vielleicht etwas zu pauschal ausgefallen ist, ihre Wendung zu lakonisch, die Unmenge aufgezählter Gedankengänge und Auffassungen hätte duraus eine differenziertere Auseinandersetzung vertragen können.
Gerade die Geschichten des letzten Abschnitts lassen eine andere Seite des Autors zum Vorschein kommen, ein Kontrasterlebnis innerhalb des Buches, das einige Umstellung beim Rezipieren der Wagnerschen Prosa erfordert. Doch wer den Sprung mitvollzieht, wird seine Freude an den Texten haben bis zur letzten Seite.
Die dem Trend der Klassifizierung unserer Literaturentwicklung in Etappen folgen wollen, mögen in Bernd Wagner einen Exponenten der jüngsten Formation sehen, bei ihm klingen Töne und Sehweisen an, mit denen wir in Zukunft sicher öfter konfrontiert werden. Also ein Buch, das auf sensibelste Art aktuell ist.
P.S. an den Verlag.
Läßt es sich bei Nachworten nicht vermeiden, daß darin eine Interpretation des zuvor Gelesenen gleich mitgeliefert wird? Wieviele Bemühungen um eine eigene Auseinandersetzung des Lesers werden dadurch hinterrücks gefährdet!