Rezension: Wie ich nach Chihuahua kam

Von: Bernd Cailloux, Wandertage im alten Amerika. Gehen und Denken: Bernd Wagner beschreibt "eine amerikanische Reise", "Wie ich nach Chihuahua kam". Berliner Zeitung, 19. Mai 2003

In einer Zeit, in der die US-Politik auf große Antipathie stößt und die Bush-Männer heftig um sich schlagen, kommt so ein schwärmerisches Buch über "Eine amerikanische Reise" genau richtig. Geschrieben hat es der Berliner Autor Bernd Wagner, der Titel "Wie ich nach Chihuahua kam" verdankt sich einem Abstecher in Mexikos Gegenwelt. Er war von einer Uni zur Lesung eingeladen worden und hatte etliche Tausend Mark zusammen gekratzt, um schon Wochen vorher zu der für ihn erstmaligen, transatlantischen Rundreise aufzubrechen. Das gab ihm genug Zeit für die Entdeckung der USA in aller Langsamkeit, von der er jetzt äußerst flüssig zu erzählen weiß.
Bereits der erste Satz verrät (nicht ohne Ironie) sein Programm: "Wenn ich schon New York verlassen mußte, dann sollte es zu Fuß sein." Der Mann hetzt nicht durch die Gegend, ist kein Kilometerfresser, der permanent am Steuer eines Mietwagens klebend touristische Höhepunkte abklappert. Wagner, Jahrgang 48, wandert lieber, seine Hauptverben sind laufen, gehen, stromern. Er hält's mit den Romantikern Tieck und Seume, zwei fußgesunden, dichterischen Vorläufern. "Wer geht", notierte letzterer vor zweihundert Jahren, "der sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr - wer fährt, hat sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt". In diesem Sinne reist Wagner so romantisch, wie's heute eben noch sein kann - also per pedes, per Zufall, per Bus im (teuer gewordenen) Greyhound, Übernachten in Absteigen oder Jugendherbergen. Dort sieht er Land und Leute, gewinnt Einsichten in Gesprächen, Billardsalons, Fleischbörsen und Heimatmuseen, auf der Straße eben: on the road.
Diese Bewegungsart verschafft ihm eine unerschöpfliche Fülle von Eindrücken, Szenen, Beobachtungen. Er mischt sich hinein in den Alltag voller Wimmelbilder, teilt den Wahn des Penners, der durch eine zerbeulte Colabüchse mit Gott telefoniert, teilt das Glück einer rastenden Schulklasse, die hoch auf der Brooklyn Bridge mit dem legendären Blick auf Manhattan ihre Butterbrote frühstückt. "Welch' ein Wandertag!", schreibt Wagner, dessen Beine das Wort Wandern von Kindheit an zucken läßt.
Go West!, klar, aber tu's im Zickzackkurs. Jeder Amerikafahrer legt seine eigene Route hin - individuell so verschieden wie ein Fingerabdruck. Die Greyhound-Tour gehörte seit den 70-er Jahren zu den westdeutschen Jugend- und Studentenritualen; man arbeitete sich lustvoll an Amerika ab. Wagner, bis `86 DDR-Schriftsteller, "Reise im Kopf" hieß ein früheres Buch, hat naturgemäß einen von viel weniger adoleszenten US-Einflüssen geprägten Blick. Er ist freier. Er muß sich nicht herumschlagen mit den einst importierten Mythen in Form von Film, Songs und Lebensstilen, nach deren Quellen die Westkinder drüben suchten. Auch die Hochburgen der Trivialität wie Florida und Hollywood kommen bei ihm nicht vor. Seine Route ist eigenwilliger und folgt auch literarischen Spuren: Albany, Badlands, Vancouver (wegen Malcolm Lowry), Columbus, und gut, San Francisco. Er fährt nach Hannibal (Gegenbesuch bei Mark Twain), er gerät (per Zufall) nach New Braunfels, eine der ältesten deutschen Siedlungen, er fährt (wieder per Zufall) nach Rapid City, wo ihn die Original Berliner Mauer mit Panzersperre überrascht, ein von Mr. und Mrs. Ernest Jones gestiftetes Denkmal. Auf dem Stammesgebiet der Dakota! Mit seinen "roten Brüdern" raucht er zwei Friedenszigaretten und hält Reden. "Auch ich, der ich im Osten Deutschlands groß geworden bin, weiß, was das Leben im Reservat bedeutet. Aber die Verbundenheit geht tiefer, da ich vom Stamme der Sachsen bin ... und seit Karl May wollte jeder anständige Sachse eine Rothaut und kein Weißer sein." Die gerührten Dakotas zeigen ihm ihren original sundance.

Mit den Orten wechseln die Ereignisse - ein Buch wie ein subjektiver Dok-Film aus Worten. Wagner versprachlicht alles Amerikanische, seine Städte und Landschaften, sein Getier und sein Getue, das überall hörbare, erbarmungslose do it! Er ist ein erzählender Ethnograf, der aus jeder Situation etwas macht. Wen er trifft (viele), portraitiert er im Vorübergehen: eine muntere Truppe aus Lkw-Fahrerinnen, Schlachtern, Schuhputzern und Easy Ridern mit schwarzer, asiatischer oder europäischer Herkunft. Das sind sie, die heutigen Bewohner eines Landes, das sich ständig im Umbruch befindet. Ihre nationale Identität ist trotz Football, Freedom und immer wieder hochgehaltener Fahne schwer bestimmbar. "Amerikaner zu sein bedeutet, einer Supernation anzugehören, die alle anderen Nationen hinter sich gelassen hat." Nur die weißen Hometown-Amis in Hannibal sehnen sich noch nach der Vergangenheit und ewig unschuldiger Jugend.
Solche Erkenntnisse, oft als Apercus, entwickeln sich zwangsläufig aus dem Erlebten. Reisen und denken stehen jederzeit im Verhältnis zueinander - Wagner ist bei aller Bilderschwelgerei ein politischer Kopf. Diskussionspartner finden sich. Wie der humboldtbegeisterte, kolumbianische Ex-Gefängnisdirektor Gabriel, der in der US-Demokratie die fürs Bürgertum effektivste Regierungsform zum Geldverdienen sieht, meist durch Ausbeutung fremder Länder; die Forderung nach Demokratie dort sei in Wahrheit die nach ungehindertem Zugang zu deren Ressourcen. Frühere Eroberer wären zu Fuß gekommen, mussten Auge in Auge kämpfen, erklärt er. "Die Amerikaner aber hätten den Himmel erobert, den Sitz der Götter, und hielten so die Welt in Schach - eine Demütigung für Völker, deren Himmel noch von einem Gott bewohnt ist."
Warum diese Furcht vor Amerikanisierung? Eingedenk dessen, was unter Herrschaft der Deutschen und Russen passierte, hält Wagner sie für wesentlich harmloser. Aller sich gegen die Yankees richtende Haß ist ihm "ein Rätsel." Er bleibt ganz und gar irdisch - bei seinem Besuch an der Basis hat er andere Seiten des Landes gesehen. Selbst an den Nigara-Fällen, wo einer der beiden Hauptfälle tatsächlich "the power of democracy" heißt. "Ich ließ mich nieder, um in Ruhe das Bild aufzunehmen, das Amerika von seiner besten Seite zeigt: als große friedliche Picknickwiese." Auch die Leser, die in jüngster Zeit mit der pax americana eher eine crux americana über den Himmeln aufziehen sehen, müsste sein Buch einstweilen aufs Schönste beruhigen.

zurück