Rezension: Der Griff ins Leere
Von: Jürgen Beckelmann. "Wurzener! Was ist aus euren Kneipen geworden?" Neue Prosa und Lyrik von Bernd Wagner. Volksblatt, Berlin, 15. Januar 1989
Es war hier schon Gelegenheit und guter Grund, Bernd Wagners Erzählungsband "Ich will nicht nach Österreich" (1987 bei Luchterhand) als geistreich zu rühmen. Jetzt liegen zwei neue Bücher vor, das eine in Prosa: "Der Griff ins Leere - Elf Versuche."
Wagner, der ab 1976 freier Autor in Berlin-Ost, dort Mitherausgeber der unabhängig produzierten Zeitschrift "Mikado" war und 1985 nach Berlin-West kam, wurde - 65 Jahre nach Ringelnatz - 1948 geboren in Wurzen/Sachsen, weltberühmt einst als "Stadt der tausend Kneipen." Was blieb von ihnen? Noch "jämmerliche fünf Getränkestützpunkte"; so heißen Flaschen-außer-Haus-Verkaufsstellen in der DDR.
Mit Witz, Melancholie, nicht ohne Bitterkeit und dem, was sich aus solcher Mischung als Humor ergibt, beschreibt Wagner den Verfall der Kneipenkultur als Kulturverfall des gesellschaftlichen Lebens, des menschlichen Mit- und des nun einmal dazugehörigen Gegeneinander. Selbst mit den einst so erfolgreichen Sportvereinen (Fuß-, Hand-, Faust, Basket-, Wasserball und Hockey) ist es in zwar mittelbarem, aber für einen klugen Autor durchaus einsichtigen Zusammenhang dabei rapide bergab gegangen.
"Bürger der DDR", so klagt er wie ein komischer Tragöde, "Wurzener! Was ist aus euren Kneipen geworden?" Und wie ein komischer Volkstribun fordert er: "Partisanen Sachsens, Thüringens, Mecklenburgs, der Lausitz und Berlins - erobert Euch Eure Kneipen zurück" (Das Komische daran ist, daß das so komisch garv nicht ist.)
Zweimal greift Wagner nach dem Thema Umweltschutz in der DDR, also dem Mangel an offiziellem Umweltbewußtsein. Am Prenzlauer Berg in Berlin/DDR wurden die großen Gasometer gesprengt, wertvolle, wenngleich natürlich (was denn sonst?) "kapitalistische" Industriearchitektur. Sie hätte, "umfunktioniert", kulturell genutzt werden können. Leute wie Wagner, die sich dafür einsetzten, landeten vorübergehend bei der "Staatssicherheit".
Und in der Lausitz wird Natur- und Kulturlandschaft durch den Braunkohletagebau zerstört. Mit dem Mut eines (sehr zivilen) Heroen, der weiß, daß er den Kampf verlieren wird, versucht ein Archäologe, an frühmittelalterlicher Kultur per Ausgrabung zu retten, was eben noch zu retten ist. Ein informativer Text, ein eindrucksvolles Porträt.
Wagners Prosa, teils Erzählung und teils Essay, ist griffig, genau, gescheit. So auch "Tod der Intelligenz - Das Jahrzehnt nach der Biermannausbürgerung" und "Der Griff ins Leere - Zehn Seiten einer Medaille". Unter diesem Titel wird die Situation dieses (und wohl auch manches anderen) Autors skizziert, der aus der DDR in den Westen wechselte. Wagner kommt zu diesem für beide Gesellschaftssysteme unangenehmen Schluß:
"Ost und West... entpuppen sich als das Gegenteil von dem, was sie in ihren Selbstdarstellungen zu sein behaupten. Die sich ökonomistisch herleitende DDR wird zu einem Gebilde von rührend primitiven Idealismus, das sich zusammenhält durch Organisationswillen und viel Schlamperei - der sich so gern mit Idealismen von Freiheit, Selbstbestimmung und dergleichen mehr schmückende Westen ist ein wie den Marxschen Analysen enstiegenes rein merkantil funktionierendes System, etwas weniger grobschlächtig vielleicht, aber genauso kriminell."
"Mein zu großes Auge", Lyrik zum zweiten, Gedichte seit 1970: Ein Teil wurde noch in der DDR veröffentlicht, viele erscheinen hier zum erstenmal. Zwar "werden wir einmal etwas hinterlassen, was / die Dinge traurig macht, wenn sie es sehn / eine gewisse Leere", jedoch: "das Leben ist möglich." Es sind meist bildhafte Gedichte, kurze Balladen in der Tonart zwischen Nein und ja; sehr spröde, sehr schön, sehr ehrlich.
Ein historisches Ereignis, betrachtet mit Ironie, ist widergespiegelt unter dem Titel: "Sozialistenfest - Anmerkungen zu einer fotografischen Aufnahme anläßlich des Internationalen Sozialistentreffens Zürich, 1893".
Engels mit Bart sieht aus wie "Väterchen Frost"; Clara Zetkin mit modischem Hut und langem Kleid lächelt zu Bebel hin, der Ähnlichkeit mit Verdi hat, und Bebels Schwager "Liebknecht hat die Füße auf dem Stuhl und sieht / zum Fotografen. / Aus dem Bild heraus. In unser Jahrhundert. / Ob wir auch genügend fröhlichen Herzens sind / bei unserer Revolution."
Der Ironie des Rückblicks folgt also eine ganz ernste, wichtige Frage - die nach dem fröhlichen Herzen, ohne welches Revolutionen auf die eine oder andere Weise zu mißlingen pflegen.
Trotz alledem und alledem: "Ankündigen von F." - "Das ist so: / er kommt. Ja, Freunde / er kommt, seid froh... / Schon schwitzt der Schnee. / Die Erde knistert. / Sie beginnt sich zu drehen! / Spürt ihr das Zittern unter euren Sohlen? / Das ist / F. Er kommt." - F. heißt Frieden, ein Wort, das nach den allzu vielen Friedensgedichten kein anständiger Lyriker mehr zu Papier bringen kann. Mit dem Trick der Abkürzung hat dieser es noch einmal geschafft.
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