Rezension: Paradies
Von: Hans-Christoph Buch, Mutter Courage im Westen. Bernd Wagner hat den großen Roman der Wendezeit geschrieben. DIE ZEIT Nr. 51, 12. Dezember 1997
Vielleicht gibt es ihn doch, den großen Roman über die Wendezeit, und betriebsblind, wie sie nun einmal ist, nimmt die Kritikerzunft ihn nicht wahr, weil er nicht in einen politisch korrekten Verlag wie Suhrkamp oder Rowohlt, sondern bei Ullstein erschienen ist, der bekanntlich zum Springer-Konzern gehört. Noch dazu ist der Autor des Romans weder ein unbeschriebenes Blatt noch ein ein verkanntes Genie oder ein notorischer Außenseiter, der als Geheimtip sein Leben gefristet hat, sondern ein aus der DDR ausgebürgerter Schriftsteller, der in westdeutschen Verlagen mehrere mit Wohlwollen aufgenommene Bücher veröffentlicht hat: Bernd Wagner ist sein Name, und "Paradies" heißt der neue, 440 Seiten starke Roman des 41-Jährigen, für mich das wichtigste Buch eines deutschsprachigen Autors in diesem Herbst.
Auch wenn es nirgendwo festgeschrieben steht: Unter einem Roman über die Wende in Deutschland stellen sich die meisten Rezensenten vermutlich etwas völlig anderes vor, als das, was Bernd Wagner geliefert hat: eine Neuauflage des "West-Östlichen Diwans" vielleicht, in dem ein Wessi dem diskreten Charme der untergegangenen DDR erliegt, die - von Uwe Johnson bis zu Christa Wolf - meist als von ihrem Liebhaber verlassene Frau geschildert wird: Medea lässt grüßen.
In Bernd Wagners "Paradies" ist es umgekehrt, der Part des Mannes wird hier von einer Frau gespielt. Keine böse Schlange verführt Eva, verbotene Früchte zu kosten, sondern Judith Mehlhorn, so heißt die Heldin des Romans, nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand und bricht aus freien Stücken auf ins kapitalistische Konsumparadies, den Garten Eden, der sie mit Leuchtreklamen über die Elbe lockt. Schon die Konstruktion der Fabel straft die gängigen Klischees von westlicher Arroganz und östlicher Larmoyanz lügen; denn Judith Mehlhorn wurde zwar vonn der Stasi durch Überdosen Cortison krank gemacht und leidet seitdem an Verfolgungswahn, aber trotz ihrer körperlich-seelischen Handicaps empfindet sie kein Selbstmitleid, sondern, ganz im Gegenteil, unstillbare Neugier auf alles, was die real existierende DDR ihr vorenthielt.
Ähnlich wie den zwergwüchsigen Oskar Matzerath macht Judiths Behinderung sie hellsichtig für die Gebrechen der vermeintlich gesunden Geschäfts- und Beamtenwelt, deren närrisches Treiben sie ohne jede Häme, eher liebevoll als boshaft, registriert. Und ähnlich wie das barocke Urbild des Schelmenromans, Grimmelshausens Simplicissimus, unternimmt Judith Mehlhorn eine abenteuerliche Reise durch deutsche Landschafts- und Seelenzustände nach dem Ende des dreißigjährigen Kalten Kriegs und zugleich eine Zeitreise, die ins verlorene Paradies der Kindheit führt. Nach innen geht auch hier der geheimnisvolle Weg, den sie im Gespräch mit William, dem Alter ego des Autors, in sieben Nachtsitzungen rekapituliert.
Was herauskommt, ist eine Haßliebeserklärung an Deutschland in der Tradition von Heines "Harzreise" oder Bernward Vespers Romanessay "Die Reise" ohne dessen politische Konvulsionen: eine Mischung aus satirischem Horrortrip und romantischem Roadmovie mit betörend schönen Bildern, wie man sie in Filmen der siebziger Jahre zuletzt gesehen hat.
Der Hinweis aufs Kino steht hier nicht von ungefähr, denn Wagners Roman hat die pionierhafte Frische und Unbekümmertheit eines frühen Werner-Herzog- oder Wim-Wenders-Films, und wie diese wirkt er ein wenig kauzig und sehr deutsch. Der Autor lehrt den Leser die Bundesrepublik mit neuen Augen zu sehen, und legt die hinter der schäbigen Fassade verborgene Schönheit bloß, wenn er das vermüllte Rheinufer beschreibt, als sei's die von Josepgh Beuys entworfene Kulisse zu einem Heiner-Müller-Stück: "Unter einer Eisenbahnbrücke stak ein Einkaufswagen im Schlamm, die Couchgarnitur, die neben einem Pfeiler stand, war verlassen... Heißt Vater, sollte aber Mutter Rhein heißen, wie überhaupt Deutschland eine Frau ist, nur zu wenig geliebt, weil sie mitunter so boshaft ist." Gemessen an den mit rituellen Selbstanklagen durchsetzten "Deutschlandbildern", die derzeit in einer gleichnamigen Ausstellung zu sehen sind, nimmt sich der Roman beunruhigend idyllisch aus, obwohl er das totalitäre Erbe der Nazizeit und der DDR scharf akzentuisiert.
In ihrem lavendelblauen Kleinbus tingelt Judith Mehlhorn, wie einst Mutter Courage, durch die unteren Regionen der deutschen Zweidrittelgesellschaft, deren soziales Elend sie nicht beschönigt oder verschweigt: von verkommenen Wohngemeinschaften über Schrott- und Rummelplätze bis zum Obdachlosenasyl und zur Psychiatrie. Aber anders als Christine F. in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" ist Judith Mehlhorn Rundfunkredakteurin von Beruf, eine gelernte Intellektuelle, die sich unter ihr Niveau begibt. Stilistisch gesehen handelt es sich um Rollenprosa, also um sprachliche Mimikry, bei der Wagner sich als Schreibkraft einer geistig verwirrten Person zur Verfügung stellt, die außer Kaffee und Zigaretten nicht viel zum Leben braucht.
Die Bekanntschaft mit Judith Mehlhorn ist ein Glücksfall für Leser, weil sie, anders als ein professioneller Autor, nicht nur Unerhörtes erlebt hat, sondern in unerhörtem Ton davon erzählt: "Oben war der Himmel, unten die Erde und kanalmäßig kanalisiert darin das Wasser. Alles strengstens aufgeteilt. Mathematisch merkantilisch militantenhaft! Ohne diese heillose Verlotterung, welche die neuen Bundesländer so alt aussehen lässt."
Das ist, ähnlich wie bei Franz Biberkopfs Jargon in "Berlin Alexanderplatz", eine kalkulierte Kunstsprache, mit der die deutsche Wende endlich einen Chronisten gefunden hat, der sich, wie die Heldin seines Romans, mehr für die Realität interessiert als für ideologische Verlautbarungen über sie.
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