Gruppenbild mit Hitler
23. Juli 2008
Endlich hat jemand bewiesen, dass unser mausklickendes Säkulum doch noch Helden hervorzubringen imstande ist und hat Hitler den Kopf abgerissen. Nur schade, dass es nicht vor 70 Jahren passiert ist und der Führer aus Wachs war.
Trotzdem wirft die heroische Tat des 41-jährigen Altenpflegers und ausgebildeten Polizisten Frank L. aus Berlin-Kreuzberg einige Fragen von nicht unwesentlicher Bedeutung auf. Die erste lautet: Was hatte Adolf Schicklgruber überhaupt in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett zu suchen? Zugegeben, in London steht er schon seit einem halben Jahrhundert und außer einigen Eierwürfen ist ihm nichts passiert, aber muss er sich nun auch unter uns, im Herzen der ehemaligen Reichshauptstadt, an seinem Schreibtisch breitmachen, als hätte es nie eine Entnazifizierung gebenen?
Ist den Veranstaltern nicht bekannt gewesen, dass wir uns in Sachen antifaschistischer Kampfbereitschaft inzwischen von niemanden, auch den Briten nicht, etwas vormachen lassen? Ulbricht, Honecker oder, falls man sie ausstellen würde, Lenin, Stalin und Pol Pot hätten von uns nichts zu fürchten, aber bei Hitler kann selbst ein der Caritas verpflichteter Altenpfleger nicht an sich halten und wird zum Berserker.
Womit wir bei der zweiten Frage sind: Was hat uns dieser Adolf Hitler angetan, daß wir seinen Anblick partout nicht ertragen können, auch wenn er nur aus Wachs ist oder von Bruno Ganz gespielt wird? Daß wir bei jeder Gelegenheit die Unvergleichlichkeit seiner Taten und die des Nationalsozialismus betonen, dass wir uns durch Gesetze vor ihrer Leugnung oder Relativierung zu schützen glauben müssen, dass wir ihn damit außerhalb jeder Geschichte stellen und zu einem Auerirdischen erklären, zu einem Mythos, der die Durchleuchtung seiner historischen Ursachen, seiner Parallel- und Folgeerscheinungen eher behindert als fördert? Ist es wirklich die Ungeheuerlichkeit seiner Verbrechen, die uns seinen Anblick nicht ertragen lässt?
Hat es allein im vergangenen Jahrhundert nicht noch genügend andere Rattenfänger gegeben, denen die Völker in den Abgrund gefolgt sind, und die wir dennoch nicht köpfen? Liegt es daran, dass es unser Rattenfänger war, dass wir das „Anti“ erst nach seinem Tod vor den „Faschisten“ gesetzt haben und ihm bis dahin recht willig gefolgt sind? Oder spielt es gar eine Rolle, dass er unsere Hoffungen enttäuscht hat, dasser ein Verlierer war, daß sein Tausendjähriges Reich nur jämmerliche zwölf Jahre lang dauerte und zum Schluss nur noch aus Trümmern bestand?
Auf jeden Fall scheint er als Verkörperung des Teuflischen, als Sündenbock, den man immer wieder aufs Neue den gehörnten Schädel abschlagen kann, unserer Gesellschaft unersetzbar. Das führt zu weiteren Fragen. Ist dieser Hitler uns nicht vielleicht hochwillkommen, weil wir auf ihn nicht nur unsere vergangenen Sünden abladen können, sondern durch ihn auch ein reines Gewissen bezüglich unseres Verhalten in der Gegenwart erkaufen? Macht er es uns nicht leicht, die Verbrechen unserer Zeitgenossen und womöglich gar unsere eigenen zu „leugnen“ und zu „relativieren“, indem wir stets auf die Einmaligkeit der von Hitler verantworteten verweisen? Sind es nicht die gleichen, höchstens zu kontrollierenden oder einzudämmenden, nie aber auszurottenden Eigenschaften im Menschen, auf die all diese Verbrechen zurückgehen und die nur manchmal mehr, manchmal weniger Gelegenheit haben, sich zu entfalten?
Denunziantentum und Feigheit, Hang zum Befehlen und zum Gehorchen, Gleichgültigkeit gegenüber den Qualen fremder Menschen, ja Lust an ihrer Demütigung oder gar Vernichtung – gibt es davon so wenig in der Gegenwart, daß unsere Empörung sich vornehmlich in Richtung Vergangenheit Luft machen muss?
Eine Empörung, die übrigens nicht viel kostet, im Fall von Frank L. möglicherweise eine Schadensersatzzahlung, die aber durch die Einkünfte aus seinen Medienauftritten ausgeglichen werden dürfte. Wie wenig ein institutionalisierter Antifaschismus die Barbarisierung einer Gesellschaft verhindert, sollte die Geschichte der DDR bewiesen haben. Es gehört mehr dazu als ein aus vergangenen Schlachten übernommenes, ewigkeitsfest zementiertes Feindbild, als die reflexartigen Reaktionen auf bestimmte Symbole, Namen, Daten. Mit gutem Grund ist die Verwendung dieser Symbole verboten worden. Dass sie in durchgestrichener Form, als in Abfallkörbe geworfener Müll sehr beliebt sind – deutet das vielleicht weniger auf Abscheu vor den damit verbundenen Inhalten als auf eine heimliche Faszination durch sie?
Sind all die Exorzismen der Antifa-Kultur, die vielen Stiefel, Stahlhelme und Ledermäntel auf unseren Bühnen und Leinwänden womöglich weniger Anklage als Klage über die verlorenen Gelegenheiten zum Marschieren? So viele Fragen, so wenig Antworten! Eine zumindest sei hier gegeben. Ja, Hitler soll an seinen Schreibtisch Unter den Linden zurückkehren. Mit abnehmbaren Kopf und ohne Fotografierverbot, so dass sich jeder Besucher mit seinem Haupt unterm Arm ablichten lassen kann.