Recht auf Alles

Politisches Feuilleton im DeutschlandRadio Kultur, 10. Dezember 2007

Als Angela Merkel vor neun Nobelpreistägern verkündete "Eine gerechte Welt muss jedem Menschen das gleiche Recht auf Kohlendioxidemissionen zusprechen", meinte sie nicht, dass jeder Mensch berechtigt ist, genau so viele Gase wie der andere auszustoßen, sondern... Ja, was meinte sie eigentlich?
Es ist unwichtig, denn Rechte werden gegenwärtig so massenhaft eingefordert, dass ihr spezieller Charakter unerheblich zu werden droht. Abwechselnd wird das Recht auf Nichtraucherschutz, auf Arbeit, auf Mindestlohn, auf Gleichbehandlung trotz unterschiedlicher Rasse, Religion, Weltanschauung und fortgeschrittenem Alter beansprucht und zum Teil vor Gericht erstritten. Die Welt scheint mit Rechten so zugepflastert, dass man von "Gerechtigkeitslücken" spricht oder, wie die Bundeskanzlerin, von einer "gerechten Welt". Wer hat die uns eigentlich gegeben, wer sie uns versprochen? Nun, es waren zweifellos die französischen Revolutionäre, die uns mit der Verkündung der allgemeinen Menschenrechte auf diese Spur brachten, und die amerikanischen, welche gar das "pursuit of happiness", das Recht auf Glückseligkeit, verfassungsrechtlich einklagbar machten.
Allerdings gab es schon damals einige Misanthropen, die das für wenig praktikabel, ja grundsätzlich bedenklich hielten. Der von Goethe so geschätzte Justus Möser etwa konstatierte, daß die "allgemeine Menschenliebe fast alle Bürgerliebe... verschlungen hat"; er argwöhnte, der inflationäre Gebrauch von Worten zeige nichts anderes als das Verschwinden der damit verbundenen Sachverhalte an.
Was hätte er, der noch dem Bibelwort "Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie" gefolgt ist, wohl zu der geforderten Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz gesagt? Hätte er das Wort "Rechte" ohne die komplementären und dennoch auf mysteriöse Weise aus unserer Begriffswelt verschwundenen "Pflichten" überhaupt in den Mund genommen? Oder hätte es ihm an-gesichts unseres Mangels an dessen, worüber wir diskutieren, nämlich der Kinder, glatt die Sprache verschlagen?
In weniger kinderfreundlichen Zeiten als den unseren wurden Kinder noch Gören, Wänster, Bälger und Blagen genannt. Sie kamen grundsätzlich nur im Plural vor, was kein Verdienst ihrer Eltern war, sondern der Heiligsprechung der Familie durch die Kirche und des Fehlens von Verhütungsmitteln. Es gab so viel Nachwuchs, dass Möser gegen die Einführung der Blat-ternimpfung polemisierte, weil diese Krankheit den schwächeren Kindern ein unwürdiges Fortexistieren erspare. In diesen finsteren Zeiten wurden Kinderarbeit, Unterordnung des Kindes unter das elterliche Gesetz, die Ausübung körperlicher Gewalt durch Eltern, Lehrer und andere Kinder als natürlich empfunden. Überhaupt herrschte die Natur: Sie gab die Kinder und nahm sie, sie sorgte dafür, dass sie ohne Rechtsschutz, aber in den meisten Fällen nicht ohne Fürsorge, ja Liebe aufwuchsen.
Heute ist das anders. Statt der Natur herrscht die Naturwissenschaft, und diese, so wie das Recht auf unsere persönliche Glückseligkeit, erlaubt es, so viele oder wenige Kinder zu bekommen, wie wir wollen. Wir können sie verhüten oder abtreiben, können auf diese Weise ihr Geschlecht bestimmen, können sie, wenn wir homosexuell sind, in manchen Ländern adoptieren, können sie durch künstliche Befruchtung oder, noch in hohem Alter, mit Hilfe von Hormonbehandlung empfangen. Unsere Kinder sind in der Regel nicht mehr Früchte der Leidenschaften sondern sorgfältiger Planung. Sie verursachen Kosten, Sorgen und Mühen, von denen unsicher ist, ob sie sie uns eines Tages vergelten, so lange das Recht der Alten auf Pflege durch ihre Kinder noch nicht im Grundgesetz verankert ist. Es gibt deshalb so wenige Kinder, daß wir auf den Import schon erwachsener Menschen aus dem Ausland und ihre noch ungeschmälerte Fortpflanzungsfreude angewiesen sind.
Die wenigen Kinder aber, die wir haben, werden auf diese Weise zu Kostbarkeiten. Wir setzen ihnen Helme auf für den Fall, dass sie stürzen; wir lassen sie nicht allein auf die Straße und füllen ihre Kinderzimmer stattdessen mit Spielzeug, Fernseher und Computer; wir feiern opulente Kindergeburtstage und bauen ihnen kleine Parallelwelten als Spielplätze, auf denen wir sie nicht aus den Augen lassen; wir kleiden sie nicht mehr wie kleine Erwachsene, sondern uns wie große Kinder.
Tun wir das, damit sie sich nicht so allein fühlen? Wollen wir ihnen das kommunale Wahlrecht mit 16 geben, aber sie weiterhin bis 21 für unmündig im Sinne des Strafgesetzes halten aus schlechtem Gewissen? Geht es bei der geplanten Verankerung der Kinderrechte vielleicht darum, uns aus unserer Verantwortung zu stehlen und sie wieder einmal dem Staat zu übertragen? Es wäre ein Anzeichen dafür, dass wir tatsächlich verlernt haben, was Pflichten sind, in diesem Fall weniger die unserer Kinder als unsere eigenen.

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