Rezension: Paradies
Von: Sabine Doering, Nackt im hessischen Schafstall. Grenzübergreifende Groteske: Bernd Wagners deutsche Reisen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Juli 1998
"Ein bisschen durch den Wind" ist sie ja schon, die rheumakranke, von Medikamenten aufgeschwemmte Judith Mehlhorn, das bestätigte sogar die Polizei. Und doch kann man sich kaum eine liebenswertere Romanheldin denken als diese sechsundvierzigjährige Geräusch-Archivarin aus Ostberlin, die im Jahr drei nach dem Mauerfall in einem lavendelfarbenen Ford den Westen des wiedervereinigten Landes bereist. Ihr Gepäck, das aus wertlosem Plunder besteht, verschenkt sie großzügig an die Eingeborenen von "Altzehnland" - nicht anders als es die Forschungsreisenden der Vergangenheit bei den vermeintlich Primitiven in aller Welt getan haben.
Und tatsächlich: Die Beschreibung der verbissen-ernsten Nahrungsrituale in einer Hamburger Wohngemeinschaft, zwischen Lärchenblütentee und Dinkelwaffeln, erinnern an die Stammessitten eines fernen Urwaldvolkes, das zum erstenmal von einem Ethnologen heimgesucht wird. So wie die großen Entdecker findet aber auch Judith Mehlhorn nicht das Paradies, denn das gehört eher in die Vorstellungswelt der Zeugen Jehovas, wie sie von ihrem jungen Liebhaber erfährt. Der war früher selbst einer dieser Paradiessucher, nun aber lebt er von Sozilahilfe und zeigt der schmerzgeplagten Judith die Freuden einer höchst irdischen Liebe.
Das Liebesglück ist allerdings nicht von Dauer. Ziellos läßt sich Judith durchs Land treiben, gelenkt allein von ihrer grenzenlosen Neugier und von zunehmenden Wahnvorstellungen. Sie sind Folge der absichtlichen Fehlbehandlung ihrer Krankheit zu einer zeit, als Unbekümmertheit und unkonventionelle Lebensweise als staatsgefährdend galten. Fast en passant wird hier der Zynismus des sozialistischen Regimes am Beispiel seines korrupten Gesundheitswesen geschildert. Judiths "Hang zum Niederen" führt sie immer wieder zu den "Assis", den Asozialen, zu Schrotthändlern, Zigeunern und Schießbudenbesitzern. Irgendwann hat sie ihre gesamte Ausrüstung verteilt, liegt splitternackt in einem hessischen Schaftstall und träumt von einer phantastischen Republikflucht.
So unglaublich die Abenteuer dieser Vagantin zwischen Prenzlauer Berg und Ruhrgebiet, zwischen Worpswede und Bamberg auch sein mögen, beschreiben sie doch anschaulich die deutsche Lebenswirklichkeit vor und nach 1989. Ob es sich um die beklemmende, entwürdigenden Zustände im Ostberliner Krankenhaus, um die Tristesse westdeutscher Kinderfeste oder um die Allgegenwärtigkeit gesamtdeutscher Hundehaufen handelt - Bernd Wagner weiß sehr genau, was er erzählt. Sein sicheres Gespür für das Groteske, das sich oft genug im Alltäglichsten verbirgt, ist wahrhaft grenzübergreifend und von der angeblichen Larmoyanz der Ostdeutsche ebenso weit entfernt wie von aller Besserwisserei der "Bundis", wie sie liebevoll genannt werden.
Es ist ein überzeugender Kunstgriff, die überdrehte Judith ihre Geschichte selbst erzählen zu lassen. Dabei entsteht eine mitreißende Rollenprosa, die bei aller Schnoddrigkeit immer wieder Verständnis für die großen und kleinen Wenden zeigt, die das Leben nehmen kann. Auch unbedeutende Nebenfiguren gewinnen erstaunliche Plastizität. In wenigen Strichen etwa wird das Bild einer unwürdigen Greisin gezeichnet, an der Brecht seine helle Freude gehabt hätte: "komme ich zur Tür rein, dann Zähne raus, Büstenhalter ab und Kaffeewasser aufgesetzt", so beschreibt Judith ihre achtzigjährige Nachbarin.
Judiths unermüdlicher Redefluß wird von ihrem Studienfreund protokolliert, der geduldig zuhört und sich nur mit behutsamen Kommentaren einschaltet. In diesem William ist unschwer das Alter ego des Verfassers zu erkennen. Wie William studierte der aus dem sächsischen Wurzen stammende Bernd Wagner (Jahrgang 1948) in Erfurt, arbeitete zunächst als Lehrer, dann als freier Schriftsteller. 1985 zog er nach Westberlin. Das Reisen ist schon lange ein Thema seiner Bücher; zunächst musste er sich freilich mit einer "Reise im Kopf" (1984) begnügen. Nun schickt er die rheumatische Judith in Tigerleggins und billiger Kaninchenfelljacke auf die abenteuerliche Entdeckungsfahrt von Ost nach West. Das ist so spannend und kurzweilig, wie man es sich nur wünschen kann.
Vor drei Jahren demonstrierte Thomas Brussig mit seinen "Helden wie wir", wie treffend der satirische Blick des Schelmenromans für die Schilderung der allerjüngsten Geschichte sein kann. Mit der schrillen Judith Mehlhorn steht seinem Klaus Uhlzscht eine ebenbürtige Chronistin der deutschen Wiedervereinigung zur Seite.
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