Rezension: Ich will nicht nach Österreich

Karl Corino, Der Dichter als Schattenmorelle. Bernd Wagners "Ich will nicht nach Österreich". Stuttgarter Zeitung, 13. Juni 1987

Bernd Wagner gehört zu jenen jüngeren Autoren, die im Lauf der letzten Jahre, meist ohne großes Aufsehen, von Ost nach West wechselten. Er wurde bis ins Jahr vor seiner Ausreise, bis 1984, gedruckt, und zwar vom führenden Verlag der DDR, vom Aufbau-Verlag: zwischen den Jahren 1976 und 1984 erschienen dort drei Bände mit Erzählungen und Aufsätzen, außerdem ein Band mit Gedichten und eine Anthologie mit Dorfgeschichten - ein Genre, das ihm aufgrund seiner eigenen Lebensform - sechs Jahre Lehrer in einem Mecklenburger Kaff!- sehr nahelag.
Wie fast jeder Schriftsteller der DDR wurde Wagner offenbar mit den kulturpolitischen Mechanismen konfrontiert, mit der Zurückweisung von Texten durch die zensur. Er unternahm es deshalb, das unterdrückte Material in einer hektographierten Zeitschrift namens "Mikado" unter die Leute zu bringen. Groß kann die Zahl der Leser, die seine "Stadtchaos"-Erzählungen zu Gesicht bekamen, aufgrund der Gegebenheiten freilich nicht gewesen sein. Wer zittert, ist aus dem Spiel, heißt die Regel beim Mikado-Spiel. Ob dies der Grund für Wagners Übersiedlung war? Eher möchte ich glauben, daß er seine Motive in einem botanischen Vergleich zusammengefaßt hat: "Die Haltung des Dichters muß die Haltung einer Schattenmorelle sein. Er darf seine Herkunft, seine Säure nicht verleugnen. Er kann sich nicht Haltungen und Ansichten, die seinem 'Holz' widersprechen, aufpropfen lassen, ohne einzugehen."
Ist dies des Schriftstellers Wagner Credo? Wenn ja, wäre es indes falsch zu glauben, seine Erzählungen seien moralinsauer und er trage dauernd große Maximen vor sich her. Der Scherz liegt ihm so nahe wie der Ertnst, und der Scherz hat nicht selten einen ernsten Kern, der Ernst seine komische Seiten.
Wagners Geschichten spielen, bis auf die erste des Bandes, "G.in B.", Grabbe in Berlin, alle in der Gegenwart, das heißt in den vergangenen drei Jahrzehnten. Obwohl die Studie über Grabbe gewiß eine gelungene historische Miniatur ist (vergleichbar Bobrowskis "Böhlendorff"), muß ich gestehen, daß mir die "Selberlebensbeschreibungen" Wagners (wenn dieser Auadruck Jean Pauls erlaubt ist) näher liegen, mich mehr angehen. Die Anverwandlung von historischem, biographischem Material, von Zitaten aus den Werken eines verblichenen Autors und die Ausschmückung durch "Einfühlung" hat leicht etwas Kunstgewerbliches und Müßiges. Wichtiger scheint mir, daß ein Autor von seiner eigenen Zeit erzählt, von seinen Erfahrungen und den Menschen, die seinen Weg kreuzen. Wagner hat sich auf 160 von 180 Seiten dieser zweiten Aufgabe gestellt. Dabei läßt er sich - das zeigen schon die ersten Geschichten recht deutlich - nicht auf platten Realismus und selten auf schlichte Pointen ein. Es gibt bei ihm gelegentlich, so etwa in der Erzählung "Gewitter", die vom Tod einer (seiner?) Großmutter berichtet, schöne Metaphern, die an den Expressionismus, an Georg Heyms Prosa erinnern: "Ich flog an ihnen vorbei, als stünden sie auf der Stelle; ich war tatsächlich ein Vogel, eine Schwalbe, eine Krähe, ich weiß es nicht, aber ich war frei."
Sollte ich etwas Verbindendes nenne, dann könnte ich, anders als der Klappentext, der von der Flucht der Wagnerschen Figuren redet oder von handelnder Sprache (als ob sie das nicht in jedem Buch täte!), von der Serie von bösen Widerhaken sprechen, die in den Geschichten manchmal stecken.
Wagner hat eine (sehr für ihn einnehmende) Sympathie für Figuren, die nicht ohne weiteres durchsichtig sind: für den Schwadroneur Tute, der sich in einem Ostberliner Interhotel allen Aufpassern zum Trotz zu den Spielern des Hamburger Sportvereins durchschlägt, oder für den Kaplan von "Sankt Rosinenthal", der angeblich als Bundesbürger in der DDR lebt, um Behinderte zu pflegen. Er flunkert so ungeniert, betrügt den Kellner so lässig um ein Bier, daß er unmöglich Priester sein kann. Und doch, der Teilnehmerausweis der ökumenischen Tagung, das weiße Stehkrägelchen unter dem Samtpullover...? Am Schluß der Geschichte weiß niemand recht, ob der Mann, der in Heidelberg und Tschenstochau studiert haben will, ein sündiger Priester oder ein Sünder im Priesterhabit ist. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, heißt es in der Bibel. Nun, Kaplan Henry "läuft wie ein Kornfeld", aber er segnet eher wie ein Teufel: "...er hatte schon seine Hände ausgestreckt, und die Strahlen, die davon ausgingen, versengten unsere Köpfe".
Die Zweideutigkeit, die Unsicherheit über Identität und Absichten eines Menschen bilden auch das Thema der Titelgeschichte "Ich will nicht nach Österreich". Da macht ein DDR-Bürger Wanderurlaub in der CSSR. Weil er sich häufig in der Nähe der Grenze zu Österreich bewegt, erregt er die Aufmerksamkeit der Behörden. Nach verschiedenen Kontrollen gesellt sich ein Reiseschatten zu ihm, der ihm tagelang in kurzem Abstand folgt. Der Leser möge das Gestrüpp der Vermutungen selbst durchqueren - schließlich stellt sich heraus, der Lange mit dem grünen Leinenbeutel ist auf den Genossen Schriftsteller angesetzt, um einen unerlaubten Grenzübertritt zu verhindern. Welch ein Mißtrauen! Und welch ein Aufwand, um die Kontrolle nach den gut Leninschen Prinzipien ins Werk zu setzen!
Kurz vor seinem vierzigsten Jahr scheint es für Bernd Wagner bei einer nüchternen Bilanz genügend Gründe gegeben zu haben, doch nach Österreich zu wollen, und sei es über den Umweg über West-Berlin, wo er heute wohnt. Die Geschichten, die er nun vorlegte, sind alle Mitbringsel aus dem Osten der Stadt. Man muß abwarten, ob er mit seinem Wechsel nicht etwa nur seine Verfolger, sondern, Marx behüte, auch die guten Geister seiner Poesie abgeschüttelt hat. Es wäre ein gewinn, wenn er sich dem kapitalistischen "Stadtchaos" mit gleichem Witz und gleicher Verve widmen würde wie zuvor dem sozialistischen...

zurück