Rezension: Die Wut im Koffer

Von: Matthias John. Bernd Wagners Reden an die Nation der Spatzen, Koffer und Kakerlaken in "Kalamazonische Reden 1-9". Freitag, 26. Juli 1991, Nr.31

Es ist viel geschrieben worden über den Untergang der sogenannten ehemaligen DDR, dieses Staats-(un)-wesen hat die eigenartigsten Bezeichnungen bekommen und sie werden ihm noch jetzt angehängt mit immer neuen Wortschöpfungen. Bernd Wagner hat in seinen Reden, deren Adressaten mal die Kreuzberger Spatzen sind, mal die vom Prenzlauer Berg oder gar Koffer, Kakerlaken und Fernsehgerät eine poetische Anredeform gefunden, die fast märchenhaft anmutet und vielleicht gerade deshalb die finstersten Wahrheiten sagbar macht. Kalamazonien als das Land seiner Herkunft, Panamazonien als das seiner Zuflucht und beides als Teil eines alten Amazoniens, das den großen Krieg verloren hat und nun doch der heimliche Sieger zu sein scheint. Entfernt erinnert diese Wortschöpfung an eine andere poetische Umschreibung eines anderen untergegangenen Landes, nämlich Kakanien.
Ich will nicht verhehlen, daß ich diese Reden in ihrer unaufdringlichen, unapodiktischen und dennoch eindringlichen Art für das Beste und Ausgereifteste halte, was bisher über die deutsche Situation seit 1989 in essayistischer Form gesagt wurde und zu sagen möglich scheint. Dazu kommt, daß sie auf den Erfahrungen einer Generation beruhen (Wagner ist Jahrgang 1948), die die Teilung Deutschlands und Europas wohl am vollständigsten auszukosten hatte, zumal wenn man im östlichen Teil aufgewachsen ist. Daher auch der tiefe Schock, diese gewaltige Erschütterung bei der plötzlichen Aufhebung dieses Zustandes, ein Impuls, den sich Wagner voll aussetzt, um wieder zu Bewußtsein zu kommen. Der Versuch, Klarheit zu erlangen, den Koffer der Erinnerung, die alte Wut, die neuen Einsichten, das ganze neue Durcheinander auszudrücken, hat hier eine Form gefunden, die über die massenhaft anfallende Tagesessayistik weit hinausreicht, obwohl alle ihre Themen auch hier vorkommen: die Maueröffnung, die Mauer als Phänomen, die Nachkriegsinternierungslager, die Währungsunion, der deutsch-deutsche Literatenstreit, die Frage, inwieweit es 1989 eine Revolution gegeben hat und was wohl jetzt aus Europa werden wird. Die Kunst Wagners über alles das zu reden besteht in einer schonungslosen Offenheit, gemildert durch den Gestus einer fiktiven Rede. Selbst längere geschichtsphilosophische Erörterungen und ideologiekritische Abrechnungen werden so erträglich und annehmbar.
Was nimmt mich für diese Reden ein? Das ist ja nicht nur die Aussage: "Die Linke umgeht das Vergessen, das Sinowjew die schlimmste Form des Pogroms nennt, indem sie gar nicht erst wahrnimmt", da sind vor allem die vielen Wahrnehmungen und Beschreibungen z.T. autobiographischer Art, die das Gewicht des Buches ausmachen. Wer schreibt denn heute noch über das Leben in der DDR ohne die nachträglichen Wertungen, ohne das Besserwissen, wenn man weiß, wie es ausgegangen ist? Die dritte Rede z.B. ist eigentlich eine Erzählung über das Leben eines Lehrers in einem brandenburgischen Dorf in den siebziger Jahren, der unter die "Waldpreußen" gefallen ist. Es ist durchaus eine Erzählung, zugleich eine soziologische Studie und zugleich eine Erklärung einiger Phänomene, die wir heute erleben. "Ich habe Angst vor der Kernfusion von Dummheit, Arbeitswut, Verdrängung und Lüge."
Wagner redet nicht nur von Kalamazonien. Er redet auch nicht nur über die jüngsten Ereignisse, obwohl er in einer Rede den Spatzen vom Prenzlauer Berg die Rolle des Geldes in der kapitalistischen gesellschaft erklärt, eine Aufklärung, die wohl nötig ist und bei der er das Wissen eines großen Bruders zu haben scheint, der eben schon ein bißchen mehr erfahren hat, weil er früher weggegangen ist. Wagner redet auch über Gott und die Welt. Doch er ist kein Philosoph von der Sorte, die immer Recht behalten will. Vielmehr erinnert sein Stil eher an die Art und Weise, mit der beispielsweise Heinrich Heine mit solchen Fragen umzugehen schien. "Oh, ich sehe blutrünstige Religionen am Horizont des Morgenhimmels heraufziehen, blutrünstig wie Artaudsche Visionen... Ich glaube, daß der Mensch niemals auf den Gebrauch einer Kreissäge verzichten wird, wenn nicht die Todesstrafe darauf steht." Ein neues katastrophales Bewußtsein wird aufblitzen, "für das bei jeder Handlung die Existenz der gesamten Schöpfung auf dem Spiel steht - ein Grundgefühl, bei dem wir heute wieder gelandet sind, wenn wir zweimal am Tag den Mülleimer leeren."
Und dann wieder größte Ironie und Satire, wenn es um die kurze kalamazonische Literaturgeschichte geht. Fast ohne Namen zu nennen, beschreibt er den "Balanceakt auf des Messers stumpfer Schneide", den die selige kalamzonische Literatur vollführte. "Glückliche kalamazonische Literatur, in der es eine Mauer gab, von der jeder profitieren konnte: Sie war Rechtfertigung für jedes Unvermögen der Eingesperrten und sie sorgte für die Heiligsprechung derjenigen, die sie passieren durften." Es bleibt kein gutes Haar an den großen Meistern, man errät schnell, wer gemeint sein könnte, Brecht, Busch, Kant, Heiner Müller, Christa Wolf, und die Epigonen vom Prenzlauer Berg, sie alle werden gründlich demontiert. Dennoch: "Leicht war dieses Leben nicht."
Was bewahrt diese Texte trotz aller satirischer Zuspitzungen und bitterernsten Bemerkungen vor der umsichgreifenden Seuche einseitiger Verurteilungen und schiefer Rechthaberei, vor nachträglichem Ungehorsam und verspäteten Totalverurteilungen? Ganz und gar fehlen euphorische Prognosen, jedoch nicht finstere Ausblicke. Man merkt diesen Texten an, daß sie nicht von heute auf morgen gewachsen sind, die Fähigkeit der Erinnerung, der biographischen Wahrhaftigkeit, die sie unmerklich einfordern, führen sie selbst vor.
Nimmt man das vor sieben jahren in der DDR erschienene Buch "Reise im Kopf" zur Hand (es war damals durchaus kein weitverbreiteter Geheimtip), so wird man auch Motive und Formen finden, die in den Kalamazonischen reden fortwirken. Die Schilderung der Verkommenheit ostdeutscher Kleinstädte, ihre Muffigkeit und latent agressive Atmosphäre, auch die Angst als Thema. Was damals noch in vielen Traumszenen verschlüsselt als Fernweh und Mauerneurose zum Ausdruck kommt ist nun nicht etwa abgegolten, doch gewandelt. Es bleiben Träume von geheimnisvollen Mauerüberschreitungen und Verhaftungen, doch jetzt kann das Niemandsland beschritten und beschrieben werden, was nicht weniger phantastisch anmutet wie ein Traum.
Trotz ihrer scheinbaren Leichtigkeit und der dialogischen, kaum in langatmig philosophierenden Stil abgleitende Rede sind diese Texte ungeheuer dicht. Ich sage es ungern, doch mir fällt kein besserer Ausdruck ein: es ist natürlich ein Buch intellektueller Prosa, doch es ist keineswegs von der Art schwergewichtiger Feuilletons zur Lage der Nation, wie sie uns allenthalben begegnen. Es ist ein freundlicher und zugleich sehr ernster Autor, der da zu uns redet, der sich nicht verbirgt hinter abgegriffenen Floskeln, der die Sprache ernst nimmt. Da in den Reden ganz selbstverständlich verschiedene Haltungen angenommen werden, da "in vielen Richtungen geschossen wird", da der Autor sogar noch vorgibt, mit Herzblut zu schreiben, gleichzeitig für Geld, werden sich ebenso viele Lesehaltungen und Reaktionen finden.

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